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Wenn Ismaila über Fasebretter stolpert

Wenn Ismaila über Fasebretter stolpert

Es ist ein Leben „unter dem Radar“. In Nordrhein-Westfalen leben 23.000 geflüchtete, junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren, die bei uns „nur“ geduldet, aber nicht als Flüchtlinge anerkannt sind. Die Abschiebung kann ihnen täglich drohen. Ein Leben zwischen Frust, Angst und Hoffnung. Dabei sehen viele von ihnen ihre Zukunft in Deutschland. Die Landesprogramme „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ erkennen das Problem und ermöglichen Perspektiven. Sprachkenntnisse gelten dabei als zentraler Faktor für Integration. Wie Arbeiten und Lernen verbunden werden, zeigt ein Beispiel aus Schmallenberg im Hochsauerlandkreis.
„Anfänger und Fortgesch…?“ Ismaila Barry stockt für einen Moment und rauft sich die zotteligen Haare. „Fortgeschrittenene?“ Jutta Fischer – seine Deutschlehrerin – schmunzelt. Ganz nah, aber noch nicht richtig, scheint ihr Blick zu sagen. Aber die Deutschlehrerin hat Verständnis mit dem jungen Mann, der neben ihr sitzt. Der 20-Jährige aus Guinea ist mit der französischen Sprache groß geworden. Das erklärt so manche sprachlichen Holperer oder putzige Aussprachen. Doch eigentlich sei nicht Ismaila das Problem, sondern das Buch, mit dessen Hilfe er Deutsch lernt. Der junge Geflüchtete hat eine Ausbildungsduldung und lernt den Beruf des Baufacharbeiters bei der Firma Knoche in Schmallenberg (Hochsauerlandkreis). Gerade hat für ihn das zweite Lehrjahr begonnen. Zum Beleg blättert die Lehrerin im Schnelldurchgang durch das auf dem Tisch liegende Buch „Lernfeld Bautechnik – Grundstufe“.

Lange, verschachtelte Sätze

Jutta Fischer bleibt an einer Doppelseite hängen – Kapitel 5: ‚Herstellen einer Holzkonstruktion‘. Enge Textzeilen, mehrere Grafiken und Schaubilder. Man sieht viele Stellen, die mit gelbem Textmarker hervorgehoben wurden: ‚poröse Holzfaserplatten‘, ‚Halbfertigerzeugnisse‘. Die Sätze sind lang und verschachtelt. „Das macht es schwerer, die Fachwörter zu verstehen für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen“, sagt Fischer.

Und wie alltagsnah und berufstauglich ist die verwendete Sprache? Selbst Firmenchef Franz-Josef Knoche stutzt, als er zwischen ‚Hobeldielen‘ und ‚Stülpschalungsbretter‘ das Wort ‚Fasebretter‘ liest. Fehlt da vielleicht ein Buchstabe? Nach kurzem Überlegen weiß Knoche was gemeint ist – nämlich abgekantete Bretter – aber ein geläufiger Begriff sei das aus dem Bauch nicht, sagt er.

Jutta Fischer arbeitet für die Berufsbildungsakademie der Volkshochschulen im Hochsauerlandkreis. Sie ist gelernte Übersetzerin und bringt seit 2015 Zugewanderten die deutsche Sprache bei – auch im Rahmen von Integrationskursen. Anfangs seien kaum berufsbezogene Lehrmittel vorhanden gewesen, sagt sie. Das hat sich etwas geändert. Inzwischen gibt es für wenige Berufsbereiche Anfängerbände, die eher Bilderbüchern gleichen – für den Bau, die Küche, Lager- oder Reinigungsberufe. Dort werden die wichtigsten Grundbegriffe anschaulich bebildert.

Fachsprache schreckt von Ausbildung ab

„Das ist nicht mehr als ein kleiner Einstieg“, sagt die Lehrerin. Das helfe in Fällen wie dem von Ismaila Barry nicht mehr. Er ist seit drei Jahren in Deutschland und zeigt sich wissbegierig und motiviert. Doch der theoretische Unterricht – noch dazu in einer fremden Sprache – ist eine Qual für ihn. Er wollte schon alles hinwerfen, sagt er. Doch die Firmenchefs und seine Betreuerinnen stimmten ihn um. So etwas gelingt nicht in allen Fällen. Jutta Fischer hatte eine Krankenpflegeschülerin, die ihren Deutschkurs abbrach, weil die Sprachanforderungen ihr zu hoch waren.

Das sei traurig und höchst ärgerlich, sagt Bauunternehmer Ulrich Knoche. „Nicht nur bei uns in der Bauwirtschaft ist der Fachkräftebedarf enorm“, sagt er. „Wir kriegen kaum noch Maurer-Azubis.“ Geflüchtete Menschen seien da sehr willkommen. Mit Ismaila habe die Firma einen „Glücksgriff“ getan. Der 20-Jährige sei freundlich und hilfsbereit. „Er kommt jeden Morgen lächelnd zum Bauhof und die älteren Kollegen nehmen ihn sehr gerne zur Baustelle mit.“

Es ist Samstagvormittag. Hinter Ismaila Barry liegt eine anstrengende 44-Stunden-Arbeitswoche. Auf einer Baustelle für ein neues Wohnhaus hat er mehrere Wände eingeschalt, Leerrohre gesetzt, eine Dämmfolie und Split gelegt. Jetzt sitzt er gemeinsam mit Jutta Fischer im kleinen Besprechungszimmer der Firma Knoche und quält sich durch deutsche Grammatik. Heute steht das Perfekt mit seinen unterschiedlichen Partizipien auf dem Programm: „Ich habe gelernt. Ich bin gefahren.“

Die Suche nach einer „Lesestrategie“

Deutsch für den Beruf auf dem Niveau B 2: das ist das Ziel, das sich Jutta Fischer für ihren afrikanischen Schüler gesetzt hat. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Bis zu zehn Stunden pro Woche könnte sie in dem durch die Landesinitiative „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ geförderten Unterricht geben. „Berufsbegleitende Sprachförderung“ nennt sich das. Allein: Es fehlt Ismaila manchmal die Zeit dafür. Gerade in den Sommermonaten „diktiert“ die Auftragslage die Arbeitszeiten in der Baubranche. Neben dem Samstag treffen sie sich gelegentlich noch einmal unter der Woche nach seinem Feierabend.

Deshalb sei es ihr wichtig, mit ihren fremdsprachigen Schülern eine „Lesestrategie“ zu entwickeln, um dadurch ihren Wortschatz – besonders den fachbezogenen – aufzubauen. Dazu gehört, z.B. als französisch-sprechender Mensch zu verstehen, dass die Wortstellung besonders bei längeren Sätzen im Deutschen anders ist als in ihrer Muttersprache. Doch diese Herangehensweise funktioniert nur, wenn man ein Mindestmaß an Schulbildung mitbringt, weiß Jutta Fischer aus Erfahrung. Sie hatte mit Frauen aus Afghanistan und Syrien zu tun – beide Analphabetinnen und mehrfache Mütter. „Da ist der Zugang zu einer fremden Sprache sehr viel schwieriger.“

Nicht so bei Ismaila Barry. Sein bester Freund ist ein Deutscher. Mit ihm kickt er in der A-Liga-Mannschaft des SV Dorlar-Sellinghausen. Auch in der Firma ist er bestens integriert, bestätigen Franz-Josef und Ulrich Knoche. „Er sieht sofort, wo Arbeit ist und fragt, was er helfen kann.“ Der junge Mann aus Guinea sieht es ebenso. „Die Arbeit auf der Baustelle macht mir viel Spaß, und die Kollegen sind immer freundlich zu mir.“ Läuft – auch sprachlich – alles glatt, möchte er die Lehre um ein Jahr verlängern, um dann Spezial-Baufacharbeiter zu sein. Dann stolpert er auch nicht mehr über „Fasebretter“.